moin ihr lieben,
das mit den mundwinkeln ist ja so ne sache.
ich hätte mich immer als sonnenscheinchen beschrieben, manchmal heiter bis wolkig, aber überwiegend positiv und heiter in die welt blickend. daher traf mich die diagnose depression als burn-out-folge ziemlich unvermittelt und die bildsprache „wie aus heiterem himmel“ passt hier wohl ganz besonders gut. so eine depression fühlt sich an wie eine gewitterwolke, die – wie an einer schnur befestigt, immer mitläuft und über deinem kopf nicht verschwinden will. das ist zumindest mein bild davon. ich hab das mal gemalt, ihr seht es auf dem bild oben.
nun, im moment hörst du ja aus allen ecken sehr unterschiedliches über depressionen… depressiven wird ohne konkrete beweise ein hang zum erweiterten suizid nachgesagt, depressiven soll einem bayerischen politiker zufolge direkt ein berufsverbot ausgesprochen werden…. und so fort.
meine überlegung ist nun, wo ich nach mehr als einem jahr krankschreibung und diversen behandlungsschritten wirklich auf einem weg der besserung bin (und mich so stark fühle, auch reaktionen aushalten zu können), mit dieser diagnose offensiv umzugehen. um diese krankheit aus der „die hat was mit den nerven“- „die ist immer komisch drauf“, „die ist nicht mehr belastbar“- schmuddel-ecke zu holen, will ich euch meine sicht auf diese perfide und fiese krankheit schildern. lediglich als exemplarischen einzelfall, ohne anpruch auf verallgemeinerung – aber in dem vollen gefühl, nicht „einen an der waffel zu haben“, sondern genau diesem stigma, was mit dieser krankheit einhergeht, entschlossen entgegenzutreten. wie findet ihr das?
in der tat bemerkte ich seit einiger zeit, dass ich mit sarkasmus auf die immer happy dargestellten welten reagiere, die uns in der social-media-welt begegnen….
… ich konnte mir ne weile nicht viel mehr abringen als: oh, schon wieder eine schwarz-weiß-eingerichtete wohnung, oh, ein weiteres pestorezept…. – nicht falsch verstehen, diese welten haben selbstverständlich alle ihre daseinsberechtigung, jedoch kam in mir so gar keine freude mehr auf, und ich hörte beinahe vollständig auf, lifestyleblogs zu lesen … obwohl ich doch selbst meinen eigenen hamburger-lifestyle-blog füttern wollte. nun ist das aufhören, blogs zu lesen, eine der am wenigsten relevanten auswirklungen einer veränderten sicht auf das leben durch depression. du wirst an vielem mehr gehindert, durch diese fehlschaltung der botenstoffe im gehirn. eben sogar daran, deine ureigensten interessen und bedürfnisse ernstzunehmen. es gab tage, an denen ich es weder schaffte aufzustehen, noch mich mit essen zu versorgen. stattdessen – NICHTS! innere leere. wo ich vorher mehr als 20 jahre vollzeit berufstätig war, viel verantwortung trug, als regionalleiterin/ geschäftsführerin rund um die uhr gefordert war, verantwortung zu tragen, prozesse abzusichern, die finanzen für einrichtungen am laufen zu halten, aktiv in der sozialpolitik mitzumischen… da fiel es mir jetzt schwer ein butterbrot zu schmieren. verrückt oder? und ja, das ist es auch. für mich, die mitten im leben plötzlich lahmgelegt war, war es einfach monatelang unvorstellbar…
depression lähmt. sie lähmt meine kreativen denkprozesse, sie raubt weit mehr energien, als ich es vom „nur mal phasenweise erschöpft sein“ kenne. meine begeisterungsfähigkeit schlummerte einen dunkelumwölkten depressionsschlaf. der sarkasmus und galgenhumor übernahmen die regie. ich wäre streckenweise wohl eine supergute satierikerin geworden.
alles kam mir inhaltsleer und bedeutungslos vor, und ich habe einen weg kolossaler veränderung eingeschlagen, um mich wieder als steuerfrau auf meinem boot des lebens zu fühlen.
wie es dazu kam? nun, ich bin niemand, die sagt, stress muss eine*n krank machen. es kommt darauf an, wie du damit umgehst… ganz klar… jedoch gibt es meiner ansicht nach tatsächlich lebensumstände und prägungen im leben, die diese krankheit begünstigen. teile dessen, wie es bei mir dazu kam, in einen stresstrudel zu geraten, habe ich gerade der stressexpertin ursula schiller verraten, die ich bei twitter traf. sie befragte mich in ihrem stressfragebogen. meine antworten und meine 6 tipps zur stressreduktion könnt ihr bei ihr nachlesen.
dieser blogpost soll mehr sein, als pure nabelschau… ich möchte tatsächlich dazu anregen, menschen, in diesen lebenssitationen, in denen alles eher nebelig als sonnig ist, zu unterstützen. depression macht angst. den betroffenen und deren umfeld. aber durch das stigma wird es ja nun auch nicht besser… also zeige ich mich. ich tauche einen moment weg aus der happy-happy-welt und widme mich diesem einen aspekt meines lebens. vielleicht ist es ja für jemand anderes relevant. dann freue ich mich.
und die formulierung – „diesem einen aspekt meines lebens“ – ist dabei schon eine der erkenntnisse, die -hier wie beiläufig genannt-, jedoch hart erkämpft sind. die depression macht den menschen nicht aus. sie ist ein teil einer erkrankung, wie ein lahmes bein oder weitsichtigkeit. sie ist nicht sichtbar (außer vielleicht an den mundwinkeln ;) )
wollt ihr wissen, was genau ich alles angestellt habe, um gesünder zu werden? um der fiesen depression nicht die oberhand zu lassen?
** *kleiner break*** wie witzig… gerade in diesem moment bekomme eine mail folgenden inhalts:
Liebe Anja,
mein weg aus der depression
…begann also mit akzeptanz. und zwar auf mehreren ebenen.
erste ebene der akzeptanz: zunächst musste die einsicht her, dass ich nicht mehr wie gewohnt funktioniere. das hört sich einfacher an, als es ist. denn die selbstbewertenden einstellungen schreien quasi immer dazwischen. innere stimmen die sagen, dass ich faul bin, den allerwertesten nicht hochkriege, alle anderen doch grad ihr leben sooo gut meistern…. und ja, an dieser stelle waren die sozialen medien mit ihrem immerwährenden trugschluss und den bildern der schokoladenseiten des lebens grad nicht zuträglich für meine selbstwahrnehmung als handlungsunfähiges häufchen elend.
zweite ebene der akzeptanz: als ich halbwegs mit mir im reinen darüber war, dass ich nicht ausschließlich faul herumhocke sondern meine botenstoffe im hirn grad ihre eigene show abziehen und einfach mal anderes mit dem notwendigen serotonin anstellten… da hatte ich zu akzeptieren, dass dieser zustand einen namen hat. dass er eine erkrankung ist. dass ich eine depression habe. fiese sache, das sage ich euch…. wer ordnet sich schon gern dieser gruppe von menschen zu, die (in der schlimmsten zuschreibung!) wie trauerklöße überall die stimmung runterziehen, um den mund herum aussehen wie die kanzlerin an ihren schlechtesten tagen und mit denen keine*r gern zu tun hat…?
dritte ebene der akzeptanz: die selbstreflektion, die ich mit hilfe einer spezialisierten und wahnsinnig guten verhaltenstherapeutin begann, brachte zu tage, dass viele meiner verhaltensweisen diese erkrankung beeinflussen… negativ wie positiv… und dass meine leistungsmuster, mein ehrgeiz, meine selbstdefinition über den erfolg in einem wirklich schwierigen job, zur verschlechterung meines burn-outs in richtung depression beigetragen haben… also: akzeptanz der eigenen verhaltensmuster, feststellen von veränderungsnotwendigkeiten. tja, ihr lieben…. und dann ändert mal, was ihr 42 jahre lang auf eine spezielle art getan habt… ich finde, das ist eine nicht zu unterschätzende leistung.
vierte ebene der akzeptanz: es werden neue entschlüsse her müssen, die einen gesünderen lebensstil/ eine passendere work-life-balance zur folge haben. sprich: RAUS AUS DER KOMFORTZONE. üben, üben, üben…. verzweifeln. weiterüben. erste kleine erfolge feiern mit neuen verhaltensweisen… freude teilen.
ihr merkt, ab hier wird es leichter… in der tat war dieser punkt nach etwa 8 monaten der krankschreibung erreicht und es stand eine medizinische reha an, um weitere positive impulse zu setzen.
es folgt:
phase 5 der akzeptanz: es wird nicht so bleiben können, wie es ist. ich funktioniere jetzt anders… also werde ich auch anderes tun müssen. ich beschloss, meinen beruf aufzugeben… . das schreibe ich jetzt einfach so hier hin. in echt war das ein riesenkampf. ich hatte das gefühl, nichts anderes zu können, als einrichtungen zu leiten, einen partizipativen führungsstil anzuwenden und sozialpädagogisch zu denken. also setzte ich mich mit meinen talenten auseinander… und stieß auf einiges mehr, als ich erwartet hatte.. das taube gefühl in mir wurde währenddessen immer kleiner.
… und jetzt, nachdem der entschluss gefasst ist, die entsprechenden gespräche dazu gelaufen sind, ich meine kündigung noch in dieser woche absenden werde um im august mit einer umlernphase zu beginnen…. da fehlt trotzdem noch eine phase…
die 6. phase der akzeptanz bedeutet für mich, anzuerkennen, dass diese erkrankung eine chronische ist. dass sie mir dauerhaft einen bewussteren lebensstil abverlangen wird, dass es immer wieder lebensabschnitte geben wird, die sich tonnenschwer anfühlen und in denen meine gedanken auf ihrer alten, gewohnten und nicht hilfreichen gedankenautobahn unterwegs sein wollen, statt meine neu erarbeiteten und hilfreichen gedanklichen trampelpfade zu benutzen, mit deren hilfe ich mich mit so viel mühe aus dem tal der tränen ans licht gekämpft habe.
ihr lieben… ich will es für heute damit bewenden lassen.
vielleicht habt ihr noch fragen? dann immer her damit in den kommentaren. ihr könnt auch anonym kommentieren und fragen. (ich behalte mir an dieser stelle ausdrücklich vor, beleidigende kommentare oder trollkommentare nicht freizuschalten.) ich versuche, fragen zeitnah zu beantworten… und lasse euch für heute noch eine liste mit links da, die ich für mich superhilfreich fand, ok?
hilfreiche links:
- blog: tobi rauh schreibt beim stern: das gegenteil von traurig von tobi katze
- bücher:
- bilderbücher zum thema depression: mein schwarzer hund & mit dem schwarzen hund leben von matthew johnstone, hier beim stern gibts auch einen link zum film: i had a black dog, his name was depression
- akzeptanz- und commitment-therapie gut einprägsam aufgearbeitet: raus aus der glücksfalle von russ harris
- berufliche neuorientierung: work is not a job von cathi bruns und aussteigen umsteigen von matthias morgenthaler und marco zaugg
- und hier schrieb ich über burn-out… und hier von meiner reha… und hier vom neuen mut nach der reha.
- NACHTRAG: das gegenteil von depression ist nicht glück, sondern vitalität. ein berührender vortrag von andrew solomon.
… und die ganze zeit, beim schreiben dieses textes war ich eine spur nervös und aufgeregt… irgendwie kommt so ein artikel über die eigenen erfahrungen im umgang mit einer erkrankung einem outing gleich… und dennoch…. – NEIN! und gerade deshalb drücke ich jetzt auf veröffentlichen!
ich freu mich über reaktionen. ich wünsch mir sogar welche. ja?